Unterstützung der Entgeldungsbewegung in Villach

Hintergrund

In Villach gibt es die tatsächlich sehr spannende Bewegung “Verantwortung Erde”. Nachdem Robert Kravanja einen Einführungsvortrag im Frühjahrtreffen '21 des Commons Institutes gehalten hat, hat @qsmd den Kontakt aufgebaut und @Marcus hat Anfang Juli '21 in Villach mit Robert getroffen.

Die Verantwortung Erde ist zwar im Stadtrat vertreten, ist aber in erster Linie keine politische Partei, sondern eine eng mit den Grundsätzen des Commonings verbundene Bewegung. Auf ihrer Homepage können die Aktivist:innen aber sicher besser über sich sprechen als ich über sie. Wichtig in dem Zusammenhang ist sicherlich auch die Munus-Stiftung, welche zu genau jenem Zweck gegründet wurde, Eigentum von privaten Nutzungsrechten zu befreien. Fakt ist auf jeden Fall: Die Villacher meinen es ernst, ihre Zahl ist nicht zu ignorieren und es ist ein auf jeden Fall unterstützenswertes Projekt.

Und Fakt ist: Sie suchen Unterstützung und hatten auch explizit gehofft mit uns in Kontakt treten zu können. Die Frage ist natürlich jetzt, was sie brauchen und wie wir ihnen zum jetzigen Stand und mit unseren gegebenen Kapazitäten helfen können.

In Villach bestehende und angestrebte Strukturen

In Robert Kravanjas Vortrag (pdf) beschreibt er die angedachte Struktur des geldfreien Villachs. Die Struktur wurde natürlich angedacht ohne die erst durch Software denkbaren Möglichkeiten genau zu kennen und ist nicht fix. Ich halte es aber für wichtig diese zu respektieren, Möglichkeiten zu suchen, diese Strukturen durch Software zu unterstützen und aufzuzeigen, wo es Änderungsbedarf gibt, wenn durch Software ein höherer Grad an Freiheit/Flexibilität erreicht werden kann, als vielleicht angedacht ist.

Auch wichtig: In Villach gibt es bereits interpersonale Strukturen, welche wir aus Software-Perspektive vielleicht als integrierte Zusammenschlüsse bezeichnen würden. Die Grundbedingung ist also nicht - wie oft von uns angedacht -, dass viele Menschen isoliert in ihren eigenen Wohnungen sitzen und zusammengeführt werden müssen, sondern dass Beziehungen und Strukturen bereits bestehen und dadurch auch ganz andere Ansprüche an eine Unterstützung durch Software gestellt werden.

Bestehende Strukturen

Ich habe einen super groben Einblick und vielleicht sollte dieser Beitrag mit der Zeit angepasst werden. Ich versuche zu teilen, was ich weiß, aber beschränke mich natürlich auf das, was mit uns zu tun hat.

  • Es gibt konkrete Personen an einem konkreten Ort, an welche Lebensmittel unentgeltlich geliefert werden. Dort werden Lebensmittel sortiert und ein Teil wird dort lokal verarbeitet und steht sämtlichen Besucher:innen frei zur Verfügung. Besucher:innen sind tatsächlich sehr viele, da dieser Ort offen für alle ist, seit Jahren sechs Tage die Woche dort gekocht wird und jede:r sich kostenlos Essen holen kann. Kostenlos heißt hier auch: Es gibt ein Spendenverbot.

  • Ein Teil der sortierten Lebensmittel werden zur E.R.D.E gefahren - eine konkrete Lokalität in der Stadt; am ehesten wohl als Freiraum zu bezeichnen. Dort werden die Lebensmittel jeden Tag aufbereitet vor die Tür gestellt und stehen jedem/jeder wieder kostenfrei zur Verfügung: Also einfach abholen und mit nachhause nehmen. Ich glaube, dass dort auch noch von anderen Quellen Lebensmittel kommen und diese dort gesammelt werden. Jedenfalls wird die E.R.D.E täglich beliefert und am nächsten Tag scheint alles weg zu sein.

  • Es gibt eine andere, in der Stadt bekannte und gut vernetzte konkrete Person, welche sich um die Verteilung von Mitteln kümmert. Das heißt zum Beispiel: Jemand braucht eine Wohnung samt Einrichtung, diese Person erfährt es und dann wird telefoniert, bis eine verfügbare Wohnung bezogen werden kann und sämtliche Möbel vor die Tür geliefert werden.

  • Da Personen der Bewegung im Stadtrat etc. vertreten sind, kommt über deren Gehälter Geld in die Bewegung. Wie hoch dieser Anteil an den Gehältern ist, ist nicht genau festgelegt und soll es auch nicht - die Villacher ‘Erdlinge’ scheinen prinzipiell nicht über Geld reden zu wollen und jede Diskussion darum zu vermeiden. Aber gerade scheint dieses Geld hauptsächlich dafür verwendet zu werden, neue Läden etc. anzumieten und für Workshops freizustellen. Die Hoffnung ist natürlich irgendwann Höfe etc. kaufen zu können und diese dann der Munus-Stiftung zu überschreiben.

Angestrebte Strukturen

Im Zentrum der von Robert Kravanja formulierten Vision stehen die Lebensmittelpunkte (LMP). Das ist tatsächlich ein Wortspiel für ‘Lebens-Mittelpunkte’ und ‘Lebensmittel-Punkte’. Auf Seite 6 der verlinkten (pdf) geht es genauer darum.

Die Vorstellung ist, dass sich jede Person genau einen solchen Lebensmittelpunkt auswählt, diese Auswahl aber stetig verändern kann. An diesem Ort findet soziales Leben statt, aber besonders wird dort auch gekocht und es kann entweder dort gegessen werden, das gekochte Essen mitgenommen werden oder es wird einfach nur Gemüse/Rohmaterial abgeholt, um es sich zuhause selbst zuzubereiten.

Je nachdem, wie viele Personen zu einem solchen Lebensmittelpunkt gehören, hat dieser einen bestimmten Bedarf. Die Vorstellung ist, dass diese LMP mit konkreten Bauernhöfen etc. koopieren, welche die Lebensmittel zur Verfügung stellen und wenn am Bauernhof Hilfe gebraucht wird, kommen Freiwillige aus diesem Lebensmittelpunkt und packen dort mit an.

Jeder Lebensmittelpunkt hat auch eine Spenden-Kassa, die eine hintergründige Rolle spielen soll, aber die dazu dient alles besorgen zu können, was eben entweder lokal nicht wächst (bestimmte Gewürze etc.) oder einfach noch nicht geldfrei zur Verfügung gestellt werden kann.

Angedacht ist auch, dass einige Lebensmittelpunkte eine Werkzeugbibliothek/Leihbar haben - also Werkzeug kann dort aufbewahrt und im Bedarfsfall herausgenommen werden.

Hat ein Lebensmittelpunkt zu viel Lebensmittel, werden diese entweder haltbar gemacht oder dem Gemeinderat zur Verfügung gestellt. Der Gemeinderat verteilt diese dann an andere Lebensmittelpunkte, eben dort, wo es an Lebensmitteln fehlt.

An der Stelle vornweg: Im (pdf) steht - soweit ich das gesehen habe - nichts von diesen Gemeinderäten und es war nur Thema im persönlichen Gespräch.

Wie können wir unterstützen?

Was die Villacher konkret gerade suchen ist eine Mittel-Datenbank; am Ende aber natürlich alles, was ihnen bei ihrem Projekt hilft. Für das Erste habe ich das “Depot” empfohlen, wobei es sich hierbei nicht um FOSS handelt, aber immerhin um eine gemeinwohl-fördernde, nicht-profitorientierte Organisation. Ob diese Datenbank den Anforderungen unserer Software-Infrastruktur genügt, muss noch an anderer Stelle herausgefunden werden - genauso, ob es für die Ansprüche der Villacher ausreichend ist.

Hier stellen sich sehr konkrete offene Fragen: Was muss eine Mittel-Datenbank alles leisten, um für uns und Villach passend zu sein?

Was ich sehr spannend zu denken finde, sind diese Lebensmittelpunkte und wie diese in unserer Systematik integrierbar sind. Und wenn wir eine Software-Infrastruktur bauen wollen, die kein starres Modell über die Gesellschaft legt, sondern eben reale Prozesse unterstützen soll, dann muss das fließend integrierbar sein.

Schnittstellen und Differenzen vom bisherigen Issmit-Konzept und Lebensmittelpunkten (LMP)

  • Beteiligte sind Teil eines LMP - einige Bedürfnisse werden nur an dieses vermittelt. Relevant wäre in der Vermittlung: Welche Lebensmittel-Unverträglichkeiten gibt es? Gibt es bevorzugte bzw. weniger bevorzugte Speisen?

  • Bedarfe werden nicht anhand von Tätigkeitsmustern vermittelt, sondern sozusagen frei durch interne Prozesse des Lebensmittelpunktes.

  • In der bestehenden Konzeption gibt es Gemeinderäte als verteilende, übergeordnete Instanzen. Ich würde behaupten, dass diese aus der Not der fehlenden Transparenz und der fehlenden Unterstützung eines sozialen Prozesses auf Augenhöhe entstanden sind. Ich denke das heißt am Ende, dass ein LMP nicht nur Bedarf, sondern auch Verfügbarkeiten vermitteln kann.

  • Bauernhöfe/Institutionen irgendeiner Art sollen vermitteln können, dass Hilfe gebraucht wird. Ist es möglich/sinnvoll hier mit Tätigkeitsmustern zu arbeiten? Wenn ja, welche Anforderungen werden an diese Tätigkeitsmuster gestellt? Werden diese Tätigkeiten bevorzugt an Personen herangetragen, welche Teil eines hierdurch versorgten LMP sind und wie passt das in unsere Systematik? Ist das eine Form der Reputation? Also: “Es ist mir wichtig für Zulieferer meines Lebensmittelpunktes da zu sein”?

  • Welche Lebensmittel gerade in einem Lebensmittelpunkt zur Verfügung stehen, ist mehr oder weniger zufällig - welche Lebensmittel allerdings zur Verfügung stehen, wird im bisherigen Flow (und daran wird sich in den gegebenen interpersonalen Strukturen wohl auch nichts ändern) an keiner Stelle als Information erfasst. Also jemand bringt “irgendwelches Zeug vorbei” und das wird dann einfach verarbeitet. Kann ein Tool zum Vorschlag von Rezepten bei gegebenen Verfügbarkeiten hier helfen? Soweit ich das sehen kann, ist es genau das, was wir auch bei der Issmit-App benötigen, aber bei der Issmit-App sozusagen absolut notwendig ist, um die verteilten Lebensmittel zusammenzubekommen, aber hier optional eine Hilfestellung sein kann.

  • Können wir den Prozess des “Zeug vorbei bringens” über Transport-Muster unterstützen? Also konkrete Transporte als Tätigkeiten vorschlagen lassen, denen sich angenommen werden kann? Wie müssen die Transport-Muster aussehen, wenn sie in interpersonalen Strukturen bereits integriert, die Strecken vorgegeben sind?

Abschließend

Ich halte die Unterstützung von Villach für einen politisch richtigen und notwendigen Aktivismus. Dort unten könnte etwas entstehen, das Kreise zieht. Wenn wir das unterstützen gäbe es eine bereits aktive und engagierte Community, die uns mit offenen Armen empfängt. Und durch die Unterstützung der Villacher können wir m.M.n. konzeptionell viel lernen und unsere technische Infrastruktur aufbauen und austesten. Ich halte das für eine absolute Win-Win-Situation. Die Frage ist natürlich, wie viel Kapazitäten wir haben und ob wir unseren bisherigen Kurs anpassen müssen.

Im Thread ‘Vermittlung von Bedürfnissen’ habe ich die Anforderungen der Bedürfnis-Vermittlung (Auswahl, wer das Bedürfnis auslesen kann) entsprechend angepasst.

Im neuen Thread Integrierte Zusammenhänge habe ich die Liste entsprechend der Anforderung der Lebensmittelpunkte entsprechend angepasst.

Im zusammengeführten Thread Konzeption von Tätigkeitsmustern habe ich ein paar Fragen aufgemacht, die sich durch das Szenario für mich ergeben haben.

Im Thread ‘Selbstbestimmte Berücksichtigung…’ habe ich etwas zur Reputation und Lebensumständen nachgetragen, was eben mit dem Szenario der Lebensmittelpunkte zusammenhängt.